Wem das Lesen schwer fällt, der kommt nicht darum herum, wirklich jede Begegnung mit einem Text als Anlass zum Lese-Training zu nutzen.
Doch es gibt immer wieder Augenblicke, wo das Textverständnis in den Vordergrund rückt, wie z.B. in Klassenarbeiten und Prüfungen. Da geht es nicht darum, dass das Lesen trainiert wird, sondern dass die Aufgabenstellung verstanden wird, damit die Bearbeitung gelingen kann.
In der Grundschule findet sich noch häufiger die Ausgleichsmaßnahme, dass die Lehrkraft den Betroffenen – manchmal auch gleich einfach allen Schülern – die Aufgabenstellung vorliest. Dies bleibt in meinen Augen auch die allerbeste Methode, denn die menschliche Betonung – von allen technischen Innovationen unerreichbar – hilft deutlich bei der Sinnentnahme.
In den weiterführenden Klassen allerdings scheint es – teils für die Schüler, teils für Lehrkräfte – uncool zu sein, Aufgabenstellungen vorzulesen. Immer wieder fragen sich Eltern, welche Möglichkeiten es in diesem Fall gibt.
Ich möchte hier drei Varianten vor- und gegenüberstellen, die ich als betroffene Mutter und praktizierende Lerntherapeutin erprobt habe.
Der Lesestift
Neu auf dem Markt der Möglichkeiten erregen Lesestifte, wie z.B. der C-Pen Exam-Reader, die mediale Aufmerksamkeit. Mit dem etwas breiteren Stift werden Texte durch Überfahren von Zeilen eingescannt und können dann über Kopfhörer vorgelesen werden.
Da dieses Gerät wirklich nur vorlesen kann und keinerlei Zugang zu anderen Medien (Internet) hat, wird eine hohe Akzeptanz an Schulen prognostiziert. An einer Kieler Schule wurde bereits für einen Schüler ein solcher Stift als Ausgleichsmaßnahme zugelassen.
Die Ergebnisse sind allerdings nur brauchbar, wenn man zum Scannen das entsprechende Fingerspitzengefühl entwickelt: ruhige Hand und richtiges Tempo beim Ziehen des Stifts. Gerade bei Legasthenikern kann man eine gute Auge-Hand-Koordination und Feinmotorik aber nicht immer voraussetzen. Auch tut sich die Texterkennung schwer mit vergrößerter Schrift, unüblichen Schriftarten und einigen Sonderzeichen (z.B. Anführungszeichen). Und wenn die Hand nicht sauber geführt wird, wirft der Stift Zeilen, bzw. Textstellen durcheinander.
Für die Sprachausgabe sind sehr viele Einstellungsmöglichkeiten gegeben. Kürzere oder längere Pausen zwischen einzelnen Wörtern oder bei Satzzeichen können eingestellt werden. Dies kann sehr hilfreich bei der gegliederten Wiedergabe von Bandwurmsätzen sein. Meine Probanden entschieden sich aber, lieber mehrmals gründlich selber zu lesen, als sich die Mühe zu machen, sich in die Handhabung einzuüben und auf die Vorlesestimme zu konzentrieren.
Mein Fazit: Für einige Betroffene mag der Lesestift eine geniale Lösung zu sein, für andere ungeeignet. Es lohnt sich wohl, die Weiterentwicklung zu beobachten, da ist aber noch sehr viel Luft nach oben. Für mehr als 200,- Euro sollte ein Kauf gut überlegt und die Rückgabefrist ausreichend für eine solide Testphase sein.
Software für Handy und Tablet
Häufig finden wir ähnliche Funktionen im Bereich von Apps wieder. Das Rad wurde nämlich schon einmal erfunden. Diese sind zwar nicht direkt für Legastheniker entwickelt und auch nicht in einem Programm vereint, hier findet sich aber ein großer Markt – zu groß, um einen Überblick zu behalten. Nicht jede App funktioniert auf jedem Endgerät gleich gut. Dafür ist die Kostenstruktur deutlich niedriger. Apps sind vielfach im Bereich kostenfrei bis 10,– € (für die werbefreie Variante) zu haben. Auf Handy oder Tablet müssen zwei Apps miteinander kombiniert werden: Mit einer App bekomme ich das Arbeitsblatt in das Gerät hinein, in der Regel über die Kamera und Texterkennung. Ich nutze dazu auf meinem Android-Handy z.B. Docutain oder Scanbot, vergleichbare Programme für andere Betriebssysteme findet man unter den Stichwörtern „Image to text“ oder „OCR“ (optische Zeichenerkennung).
Der zweite Schritt ist dann, den erkannten Text vorlesen zu lassen. Dazu sucht man sich eine App unter dem Stichwort „TTS“ (Text to Speech), für mein Handy habe ich z.B. @Voice Aloud Reader gefunden, aber auch da gibt es viele andere. Dem Vorgelesenen zuzuhören empfinde ich deutlich einfacher und angenehmer als bei dem Lesestift.
Bei dieser Anwendung liegt das größte Problem in der Befürchtung von Lehrern, die Schüler könnten mit ihrem Handy oder Tablet gleich mal die Lösungen der Aufgaben googeln. Einerseits denke ich, dass die Schüler mit starken Einschränkungen im Lesen, von denen wir hier sprechen, nicht wirklich in der Lage sind, schnell und unbemerkt auf dem kleinen Bildschirm etwas zu googeln, sinnerfassend zu lesen und das Ergebnis unauffällig in ihre Arbeit einzubauen. Da wünsche ich Lehrern mal ein wenig Vertrauen. Andererseits sollten Schulen ohnehin ein digitales Konzept entwickeln, wie sie zum einen mit den Schülern im Internet arbeiten und zum anderen für Prüfungen einen Zugang verwehren wollen. Schulen könnten „Lesehandys“ zur Verfügung stellen. Nach dem Herunterladen der Programme kann die SIM-Karte entfernt werden und die Schule hat es dann selber in der Hand, inwieweit WLAN zur Verfügung steht. Digitalisierung heißt nicht nur Anschaffung von Endgeräten, sondern auch Erwerb von digitaler Kompetenz.
Mit Spracherkennung könnte man dann auch bei großen Rechtschreib-Problemen den umgekehrten Weg nutzen, um durch Diktier-Funktion oder Audio-Aufnahme mündlich abzuliefern, was schwer zu verschriftlichen ist.
Mein Fazit: Eine einfache Lösung, wenn man bedenkt, dass die Schüler heutzutage im Umgang mit Handys deutlich souveräner sind als wir Eltern – vorausgesetzt, die Schulen erwerben sich da auch eine gewisse Souveränität.
MP3-Player
Genauso „nach außen abgeschirmt“ wie der Stift, verhält es sich mit dem schlichten MP3-Player, auf den der Lehrer die Aufgabenstellung aufsprechen kann, die der Schüler dann abhört. Das finde ich die unkomplizierteste Lösung, zumal die Handhabung so eines Gerätes naheliegend einfach ist. Außerdem wird der Text sinnstiftend – und nicht mechanisch – gelesen. Allerdings macht es den Schüler davon abhängig, dass alle Lehrer für jeden einzelnen Leistungsnachweis bereit sind, diese zusätzliche „Arbeit“ zu leisten. Bei den erstgenannten Lösungen wäre er unabhängiger.
Übersicht
Pro | Contra | |
Lesestift | · voraussichtlich hohe Akzeptanz, da nicht internetfähig | · technisch noch nicht ausgereift
· braucht viel Geschick und Übung · sehr teuer |
Handy oder Tablet | · den Schülern vertraute Medien
· günstig |
· benötigt Vertrauen
· benötigt digitales Konzept der Schule |
MP3-Player | · einfachste Handhabung
· Text wird mit Betonung gelesen · günstig |
· angewiesen auf Kooperation der Lehrer |